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Brücken zwischen globaler und lokaler Medizin

Wir leben in einem Zeitalter der Globalisierung. Nicht nur werden Waren weltweit getauscht, sondern durch Handel, Massentourismus, Medien und die weltumspannende elektronische Vernetzung werden auch Ideen und Wertvorstellungen von einer Gesellschaft zur anderen vermittelt. Ganze kulturelle Komplexe werden transferiert, darunter auch die Heilsysteme anderer Kulturkreise. Gesundheit und Krankheit sind in jeder Gesellschaft zentrale Angelegenheiten.

„Die Arzneikunst wurzelt im Herzen. Ist dein Herz falsch, so ist auch dein Arztsein falsch; ist dein Herz gerecht, so ist auch der Arzt in dir gerecht."

Paracelsus

Heilsysteme anderer Kulturen

So erlangte die positivistische, naturwissenschaftliche Medizin des Westens samt der dazugehörigen Technologie nahezu weltweite Verbreitung. Die sogenannte alternative Medizin dagegen öffnete ihrerseits ihre Pforten verschiedenen Traditionen, darunter dem indischen Ayurveda und Yogatherapien, schamanischen Heiltechniken, der hawaiischen Kahuna, der indianischen Schwitzhüttentradition, afrikanischem Voodoo, südamerikanischen Ayahuasca-Ritualen, der islamischen Unani, der tibetischen Medizin, der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), der Akupunktur und anderen fernöstlichen Methoden. Oft sind diese exotischen Therapien Strohhalme, nach denen enttäuschte Patienten greifen, denen die offiziell sanktionierte wissenschaftlich-reduktionistische Medizin nicht helfen konnte.

Verschiedene Kulturen haben meist verschiedene Therapieansätze  

Kamille

Oft faszinieren diese exotischen Therapien auch, weil sie mit bunten Bildern arbeiten und so die Seele objektiv vorhandener Wirkstoffe wie Bisabololoxid, Chamazulen usw. – bei einem Indianer nicht dieselbe Heilwirkung hervorrufen wie bei einem Mitteleuropäer. Es fehlt die Erwartungshaltung, das vollkommene Vertrauen; es fehlt die Großmutter, die dem Kind bei seinen Wehwehchen den duftenden Kamillentee kocht und dazu tröstende Worte spricht – kurz, es fehlt der kulturelle Kontext.

Ein Beispiel: Der Syphiliserreger Treponema pallidum

Die Epidemie, die Europa heimsuchte, nachdem Kolumbus eine virulente Spielart des Syphiliserregers Treponema pallidum eingeschleppt hatte, liefert ein weiteres Beispiel für die Schwierigkeit der Übertragung und Übersetzung fremdethnischer Heilmittel und -methoden. Die karibischen Indianer waren tatsächlich in der Lage, diese schreckliche Krankheit mit extrem heißen Dampfbädern in Kombination mit einem »blutreinigenden« Phytotherapeutikum – wie etwa Pockholz (Guajacum officinale) oder Stechwinde (Smilax aristolochiaefolia) – und besonderen diätetischen Maßnahmen auszuheilen.

In Europa schlug dieselbe Therapie fehl. Vom europäischen Standpunkt aus gesehen enthielt das Heilverfahren viele unverständliche, ja »heidnisch abergläubische« Elemente. Man sah wenig Nutzen in einer besonderen Diät, bestehend aus weißen »Geisterspeisen« (weiße Gemüse, weißer Mais, Palmherzen, weißes Fischfleisch usw.); das Dampfbad wurde durch eine überhitzte, muffige Stube ersetzt, und das importierte Guajakum blieb aufgrund unsachgemäßer Anwendung pharmakologisch wirkungslos. Die Mediziner kamen zu dem Schluss, gegen die venerische Krankheit sei kein Kraut gewachsen; sie gingen zu eine Behandlung mit alchemistisch präparierten mineralischen Giften, wie etwa Quecksilbersalbe, über.

Literaturtipp "Einsichten und Weitblicke"

In dem Buch, Einsichten und Weitblicke, geht es in erster Linie um Pflanzen, um Schamanenpflanzen, um invasive Neophyten, Pyrrolizidin-Alkaloide und Hildegard von Bingens Löwenzahn. Die Sicht über Zeitfragen wie Klimawandel, Ökologie und Gesundheit. Das Wesen der Tiere, die Bedeutung der Märchen und das Gärtnern sind weitere Themen, wie auch magische Reisen nach Indien, China, Mexiko, Südafrika und anderen Ländern. Ein Buch, gefüllt mit vielen klugen Gedanken und Weisheit und eine Orientierungshilfe in einer bewegten Zeit.

Die traditionelle chinesische Medizin

Wir sehen also, die erfolgreiche Integration von fremden Kulturelementen, insbesondere Heilmethoden, ist nicht immer einfach. Man kann sie nicht einfach aufpfropfen oder wie bei einer mechanischen Vorrichtung aufsetzen und anschrauben. 

Das gilt auch für die traditionelle chinesische Medizin (TCM). Dieses ostasiatische medizinische System folgt anderen Regeln, einer anderen »Grammatik« oder Semantik, als wir es gewohnt sind. So entspricht zum Beispiel die chinesische »Leber« (gan) nicht der Leber der klassischen westlichen Medizin. Sie ruft ganz andere Assoziationen hervor. Sie ist weniger eine feste organische Struktur als vielmehr eine dynamisch-energetische Funktion, die mit anderen Funktionskreisen in Beziehung steht. Weil man im westlichen Kulturkreis die »Grammatik« der chinesischen Medizin nicht verstand, galt sie noch bis in die sechziger Jahre als eine kuriose Ansammlung längst überholter, primitiver, abergläubischer Vorstellungen. 

Erst nachdem die »Ping-Pong-Diplomatie« Kissingers unter der Nixon-Regierung bessere Beziehungen zu China einleitete, durften Berichterstatter das geheimnisumwitterte Land besuchen, darunter der renommierte Reporter der »New York Times«, James Reston. Er durfte schwierigen Operationen beiwohnen, bei denen die Patienten bei vollem Bewusstsein operiert wurden. Zwei oder drei Akupunkturnadeln, ins Handgelenk gesteckt, nahmen ihnen den Schmerz. Der verblüffte Zeitungsschreiber konnte schließlich am eigenen Leib Erfahrung sammeln, da er eine Blinddarmentzündung bekam und ohne Narkose mit Hilfe der Akupunktur operiert wurde. 

Der Verband amerikanischer Ärzte (American Medical Association) konnte so etwas Ungeheuerliches – zumal es ein anerkannter Reporter berichtete – nicht länger ignorieren und musste dazu Stellung nehmen. Man schickte mehrere Ärztedelegationen nach Peking. Es stand tatsächlich außer Zweifel, dass hier etwas Außerordentliches geschah, das aber nach wissenschaftlichen Kriterien weder erklärt noch erfasst werden konnte. Inzwischen haben Ethnomediziner, Sinologen und andere viel Übersetzungsarbeit geleistet, sodass wir die chinesische Medizin inzwischen besser verstehen. Ein regelrechter Schatz, der die heilkundlichen Erfahrungen von über fünftausend Jahren in sich trägt, tut sich vor uns auf.

Tee

Etwa das ostasiatische medizinische System folgt anderen Regeln

Da sich China teilweise auf denselben geografischen Breitengraden befindet wie Europa oder wenigstens vergleichbare Lebensräume mit vergleichbaren ökologischen Bedingungen aufweist, bietet es ähnliche oder nah verwandte Pflanzenarten wie bei uns. Da ist es interessant, wie solche Heilpflanzen in der chinesischen Heilkunde charakterisiert und angewendet werden. Welchen Stellenwert haben etwa, um einige Beispiele zu nennen, Beifuß (Artemisia), Helmkraut (Scutellaria), Alantwurzel, Bockshornklee, Braunelle, Eisenhut, Klette oder die in der TCM am häufigsten verwendete Heilpflanze Dang Gui, die Engelwurz? Die Beschäftigung mit chinesischer Kräuterkunde führt zu einer Vertiefung des Verständnisses der korrespondierenden europäischen Heilkräuter.

Aber es gibt auch andere Aspekte. Dank der Anregung aus der chinesischen Kräuterheilkunde ist man in den letzten Jahren wieder auf lange vergessene, in Europa heimische Heilpflanzen gestoßen, zum Beispiel die Karde (Dipsacus sylvestris).

Karde (Dipsacus sylvestris)

Karde (Dipsacus sylvestris)

Der amerikanische Homöopath und TCM-Praktiker Matthew Wood entdeckte, dass der Symptomkomplex, bei dem die Kardenwurzel (Xu duan) in der chinesischen Heilkunde Anwendung findet, sich mehr oder weniger mit dem Symptomkomplex der Borreliose deckt. Daraufhin behandelte er seine Borreliose-Patienten mit einer Kardenwurzeltinktur. Mit viel Erfolg. Die Karde erwies sich als eines der besten Mittel zur Behandlung der gefürchteten Spirochäten-Erkrankung, besonders in chronischen Fällen.

Auch der Wiener Arzt und profunde Kenner der chinesischen und tibetischen Medizin, Florian Ploberger, weist uns zurück auf unsere heimische Heilkräuterflora. 

In seiner Praxis benutzt er die Pflanzen, mit denen wir vertraut sind und die wir selber sammeln können, nach TCM-Kriterien. Wir müssen also nicht unbedingt Trockenware aus China importieren, deren Alter und Qualität wir nicht beurteilen können – oft sind sie mit Pestizidrückständen, Schwermetallen und Schimmelpilz (Aflatoxinen) belastet – und die wenig Bezug zu unserer heimischen Erde und unserer Heiltradition haben. 

Veranstaltungstipp

Phytotherapeutika in der naturheilkundlichen Praxis

In diesem Seminar stellt die Fachärztin und Autorin Dr. med. Marianne Ruoff bewährte Kräuteranwendungen und Ernährungsmaßnahmen aus ihrer bisherigen langjährigen Praxiserfahrungen dar. Wir erfahren etwa Kräuterrezepturen für gängige Infekte, und lernen die Wirksamkeit und Anwendung vieler heilkräftiger Pflanzen kennen. Das alles verbunden mit einem Blick auf die TCM und alteuropäische Heilkunde.

Mehr Infos unter: www.storl.de/akademie/events

Über den Autor

Dr. phil. Wolf-Dieter Storl

Ethnobotaniker, Kulturanthropologe

1974 Promotion zum Doktor der Ethnologie (magna cum laude) in Bern, Schweiz. Langjährige internationale Lehrtätigkeit. Zahlreiche Reisen, ethnographische und ethnobotanische Feldforschungen prägen sein Denken. Autor von mehr als 30 Büchern, die in viele Sprachen übersetzt wurden.

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Diskussion

Kommentar

  1. Wie wichtig es geworden ist, sich mit der Natur zu verbinden.
    Storl weist darauf hin, daß es mehr gibt als in dieser Virus Zeit vorgegeben, vorgespielt wurde.

    Der Mensch ist ein leichtgläubiges Tier. Und wer die Not hat nie gespürt sich leicht im Wohlstand verirrt.

    Leider gibt die Technik den Ton an.
    Und mit riesen Schritten wird Einheitsdenken produziert.

    Darum…
    ” Haselstock in deinen Händen wird sich dein Leben wenden”
    Seh Blüten, Samen, Pflanzen..
    Keiner hätte je die Macht, dieses Neues erschafft.
    Im Reigentanz der Lebenssubstanz!

    Chris K.

    • Faszination, Begeisterung wundervoll geschrieben.

      Sehr detailliert beschrieben kann ich nur weiterempfehlen.

      Ein lieben Dank an den Wolf Dieter Storl.


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