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Lebensernte

Der Sturm hat einige alte Fichten umgehauen. Das ist Holz für den Herd. Da muss man sägen, spalten und aufstapeln. Rund drei Jahre lang muss es gelagert werden, damit es gut trocknet, ehe es die Stube wärmen und den Herd einheizen kann. Der Garten muss umgegraben, der Kompost umgesetzt und die Saaten gepflegt werden. Alles gute, harte Arbeit, die in der hellen Jahreszeit den Körper kräftigt, die Seele mit wahren Bildern nährt und schließlich Erdäpfel und Gemüse auf den Teller bringt.

Wir werden geformt und gestaltet Durch das was wir lieben.

J. W. Goethe

Die Jahreszeiten des Lebens

Wer diese Arbeitsgänge schon oft gemacht hat, weiß, dass man nicht viel darüber nachdenken muss. Es fließt einfach, in einem natürlichen Rhythmus. Der Kopf kann sich dabei ausruhen, leer werden. Man kann sagen, es ist Meditation. Das arme Hirn hat es auch nötig, denn im Winter beim Schreiben läuft es auf Hochtouren, voller Gedanken und Formulierungen, die einen bis in den Schlaf hinein verfolgen und die Nerven anspannen.

Nun aber merke ich mit dem Überschreiten des siebten Lebensjahrzehnts, dass die körperliche Arbeit schwerer fällt. Hier und da zwickt und zwackt es, die Knochen meutern, die Zähne beißen nicht mehr die harte Brotkruste. Mögen amerikanische Wissenschaftler von der Ausschaltung eines sogenannten Altersgens träumen, die Ärzte eine Anti-Aging-Diät verschreiben oder Wissenschaftsgläubige gar ihre Hoffnung auf die Kryokonservierung des Leichnams in flüssigem Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius, setzen, um von einer zukünftigen Wissenschaft zu neuem Leben erweckt zu werden – für mich ist das alles Wahnsinn. 

Das Leben ist ein Kreislauf

Baldrian (Valeriana)

Unser Leben verläuft wie die Jahreszeiten der Natur. Herbst und Winter lassen sich ebenso wenig aufhalten wie das Erstarken der Sonne im Frühling. Geburt und Tod sind ein natürliches Geschehen. Götterkräfte sind da am Werk, unerbittliche, mit denen wir uns in Einklang bringen sollten. Wie die Kräuter und die Blumen im Feld kommen wir ins Leben hinein, blühen dem Himmel entgegen, versamen im Herbst und verschwinden wieder. Der göttliche Geist, der uns durchweht, sich in uns verkörpert und unser eigentliches Selbst darstellt, ist Zeuge dieses Werdens und Vergehens in dieser Raum-Zeit-Dimension. 

Es ist seine wilde, ekstatische Fahrt auf der Achterbahn des Daseins. Unser Leben ist das Abenteuer des Göttlichen in uns, ein Wagnis und Berserkergang mit unvorhersehbarem Ausgang. Es ist der Tanz Shivas, dem Selbst aller Wesen, mit seiner verführerischen, bezaubernden, schrecklichen, betörend schönen, grausamen, lieblichen, sanften, täuschenden Maya.

Es ist der Tanz, der dem Ego Angst macht, vor dem es sich zu schützen sucht, vor dem es Rettung in der Religion oder als angepasster Gutmensch erhofft. Es ist der Tanz, den das Ego durch diese oder jene Ideologie auszublenden oder von dem es sich durch Alkohol, Sexsucht odervirtuelle Spielwelten abzulenken versucht. Aber, sorry, es gibt keine Rettung für das Ego! Und dennoch, ehe man das Ego verflucht oder ins Nirwana verdammt, sollte man wissen, dass auch es dazugehört, dass auch es Teil des Abenteuers ist: Es ist die Plattform, auf welcher der göttliche Tanz im Dasein stattfindet und sich manifestiert. 

Meine Lehrer

Diese Sicht der Dinge– auch das ist ein Teil der Lebensernte – habe ich übrigens den indischen Sadhus, den wild aussehenden Wandermönchen, zu verdanken. Die lebendige Erde unter unseren Füßen, die Materie (von lateinisch mater, »Mutter«), die uns unseren physischen Körper geliehen hat, bleibt uns treu. Der Himmel, der die Welt und auch unsere Seele mit seinem Licht erleuchtet, die Nacht, die uns Tiefe schenkt und mit den Sternen verbindet, die Pflanzen, die uns nähren, kleiden, behausen, heilen und uns sogar die Luft zum Atmen geben, die Tiere, die verkörperten Seelen, die unsere Gefährten sind und mit unserer Seele reden, damit wir nicht zu einsam werden, die Steine, die uns die Stille lehren – sie alle sind uns treu. Sie geben uns wahre Inspiration, sie reden mit unserem Wesen. Daher ehren wir sie, achten sie und lieben sie alle. Das habe ich von den Cheyenne-Indianern gelernt; auch das ist Teil der Lebensernte.

Indien 2012

Wolf-Dieter Storl in Indien

Viele Lehrer – nicht nur Menschen, sondern auch Tiere und Geistwesen – kamen des Weges und bereicherten mich. Sie alle aufzulisten würde ein ganzes Buch füllen. Unter ihnen die Grundschullehrerin, Fräulein Caesar, die uns Kinder immer mit in die Natur nahm und uns zeigte was vor unseren Augen liegt, damit wir es wirklich sehen. Auch der alte Hufschmied, unser Nachbar in Ohio, der mich in die Geheimnisse des Gärtnerns einweihte; die Bauern im Emmental, die mir das Melken von Hand, das Pflügen mit Rossen und vor allem das Dürrehebe (Durchhalten) beibrachten; die Indianer in Montana und der Bergbauer Arthur Hermes aus dem Waadtland, die mir die Natur als Erscheinung des göttlichen Mysteriums nahebrachten – sie alle haben mich bereichert.

Das Leben ist wie ein Windhauch

Vor allem aber war mein Großvater mein Guru. Als ich noch in der Schweiz lebte, besuchte ich ihn jedes Jahr in der DDR, wo er wie ein Einsiedler in der Garderobe der vom Staat enteigneten Villa hauste, dort wo einst die Herrschaften ihre Mäntel, Spazierstöcke und Regenschirme ablegten. Der Raum war so klein, dass er ihn gut mit einem Elektrostrahler heizen konnte. Das ganze Jahr verbrachte er mehr oder weniger in Meditation, und dann, bei meinem Besuch, philosophierten wir. 

Mit dem 95-jährigen Arthur Hermes

Mit dem 95-jährigen Arthur Hermes

»Alles Schwindel, was in den Zeitungen und Geschichtsbüchern steht«, sagte er. Er musste es wissen, er hatte Kaiserzeit, Kriege, Hitlerdiktatur und den sogenannten Arbeiter-und-Bauern-Staat durchgemacht. Ich dachte, das sei seine Lebensbilanz. Aber ich irrte. Im folgenden Jahr fragte er mich, ob ich wisse, wie alles entstanden sei, die Welt, die Natur, der Mensch. Da erklärte ich ihm die neuste wissenschaftliche Sicht der Dinge. Er schmauchte seine Pfeife und winkte ab: »Das sind lediglich Theorien, Einbildungen, alles imaginaire!« Ich versuchte es mit der christlichen Version der Schöpfung und mit der anthroposophischen Geisteswissenschaft. Er schüttelte den Kopf: »Auch das ist erdacht, erdichtet, imaginaire!« Nun kam ich mit der buddhistischen Sicht der Dinge. Er hörte gespannt zu und sann nach. »Ja«, sagte er schließlich, »da ist was dran, aber letzten Endes ist auch das Einbildung, auch das ist imaginaire. Was wissen wir wirklich? Das Leben ist ein Rätsel; unser Dasein besteht aus Rätsel über Rätsel.«

Literaturtipp

In dem Buch, Einsichten und Weitblicke, geht es in erster Linie um Pflanzen, um Schamanenpflanzen, um invasive Neophyten, Pyrrolizidin-Alkaloide und Hildegard von Bingens Löwenzahn. Die Sicht über Zeitfragen wie Klimawandel, Ökologie und Gesundheit. Das Wesen der Tiere, die Bedeutung der Märchen und das Gärtnern sind weitere Themen, wie auch magische Reisen nach Indien, China, Mexiko, Südafrika und anderen Ländern. Ein Buch, gefüllt mit vielen klugen Gedanken und Weisheit und eine Orientierungshilfe in einer bewegten Zeit.

Gut, das war also seine Lebensbilanz, dachte ich. Als ich ihn im darauffolgenden Jahr besuchte, wurde mir klar, dass es noch nicht die endgültige Bilanz gewesen war. »Das Leben und unser Dasein besteht aus Wunder über Wunder« ,erklärte er mit leuchtenden Augen. »Egal, ob du reich bist oder arm, gesellschaftlich angesehen oder unbedeutend – das alles hat keine Bedeutung, klammere dich nicht an solche Dinge; auch das ist lediglich imaginaire.« Das gab er mir als Rat mit. Ich habe mich daran gehalten. 

Ich fragte ihn noch, wie ihm nach sechsundneunzig langen Jahren auf Erden das Leben vorkam. »Wie ein Windhauch! Im Nu verfliegt unser Dasein«, gab er zur Antwort. Irgendwie begriff ich, dass man in diesem kurzen Das ein wahrhaftig und rechtschaffen leben sollte, um – wie die Inder sagen –nicht ein schlechtes Karma in die Ewigkeit mitzuschleppen. Es sollte der letzte Besuch gewesen sein. Die Behörden entdeckten den allein lebenden Alten und steckten ihn in ein Altersheim. Da entschied er ganz bewusst, die Welt zu verlassen; er hörte auf zu essen und zu trinken, und nach wenigen Tagen war er tot. Sein Leben war bis zum Schluss selbstbestimmt.

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